Die Frauen von Carnikava

Eine halbe Busstunde nordöstlich von Riga entfernt liegt das Fischerdorf Carnikava. Es ist Nebensaison. Es ist kalt. Es liegt Schnee. Belebt ist der Ort trotzdem. Ein Besuch an der lettischen Ostseeküste.  Von Ronja Bachofer, Fabian Grieger, Jonas Pospesch, Alina Ryazanova und Fabian Severin 

Der Bus nach Carnikava kostet 1,80 Euro; die traditionell osteuropäische Rote-Beete-Weißkohl-Suppe Borschtsch 2,20 Euro. Zumindest bei Sabina, 40Jahre alt. Sie kellnert seit ihrer Jugend; heute betreibt sie direkt neben der Bushaltestelle im Dorf das Café Tine. Es ist mit knallgrünen Sitzen ausgestattet, die Heizung ist ausgeschaltet.  

Sabina

Gegen die Kälte gibt es heiße Pfannkuchen und Tee. Sabina findet es gut, dass es nicht besonders voll ist. Sie liebt die Ruhe. Im Sommer kommen ihr zu viele Tourist*innen, fünfmal so viele wie es Bewohner*innen gibt, sagt Sabina. Sie alle wollen ans Meer. 

Der schneebedeckte Strand

„Ich finde, einen besseren Ort als Carnikava gibt es nicht auf der Welt.“ Den Ortsnamen spricht Sabina russisch aus: das erste „A“ betont sie stark. In Carnikava leben rund 5.000 Einwohner*innen. „Hier ist mein Paradies. Das Meer ist sehr wichtig für uns und unsere Gesundheit. Meine Mutter und ich baden im Sommer und im Winter in der Ostsee, auch bei minus 20 Grad. Dabei ist meine Mutter über 70“, sagt Sabina.

Ihr Lieblingsort liegt direkt an der Küste, wo der Fluss Gauja im Meer mündet: „Manche mögen Großstädte, ich mag in der schönen Natur sein. Dort ist mein Rückzugsort“, erzählt Sabina.  

Vineta

An einer Kreuzung, wenige Minuten zu Fuß von Sabinas Café entfernt, steht ein Wurststand. Vineta, 24, und ihr Kollege sitzen dahinter im Lieferwagen. Der Motor läuft. Nur wenn Kundschaft kommt, zwingt sich Vineta raus in die Kälte. Auf einem Tisch vor ihr liegen Hähnchenschenkel, Schweinefett und Rinderwürste. 

Seit zwei Sommern stellt sie die Würste selbst her: Sie räuchert, würzt und darmt ein. Im Winter verkauft sie die Würste dann an verschiedenen Orten; jeden Donnerstag in Carnikava. Das Geschäft läuft trotz Kälte und Nebensaison gut. Vineta sagt: “Alles, was man auf dem Stand sieht, wird an einem Tag auch verkauft.”  

Gerichte ohne Fleisch sind in Riga und in Carnicava nicht so leicht zu finden. Manche werben explizit damit und schreiben auf ihren Fenstern “No Vegan”. Obwohl Vineta sich mit der Verarbeitung von Fleisch beschäftigt, fände sie es gut, wenn es mehr vegane Angebote gäbe. 

Tatjana

Aus dem Waldstück, das den Ort vom Meer trennt, kommt eine Frau mit zwei Nordic-Walking-Stöcken. Sie heißt Tatjana und lebt seit fast 30 Jahren in Carnikava. Über ihrer rechten Schulter hängt eine blaue IKEA-Tasche voll mit Tannenzweigen.  

„Bald ist der 1. Advent”, sagt Tatjana auf Russisch. Wie einige Lett*innen hat sie russische Wurzeln in der Familie und lebt in dritter Generation in Carnikava. „Ich werde am Wochenende mein Haus dekorieren. Ich stelle ein paar Zweige ins Wasser und flechte vielleicht auch einen Adventskranz.“ Noch vor einem Jahr hat sie in Riga in einem Blumenladen als Floristin gearbeitet. Weil es in Carnikava kaum Arbeitsplätze gibt, ist sie jeden Tag mit dem Zug nach Riga gependelt.  

Nun ist sie im Ruhestand. Ihre Rente, rund 400 Euro, reicht gerade in Zeiten der hohen Inflation nicht aus, um zu überleben. Deswegen arbeitet Tatjana zwei Tage die Woche in einem Kiosk in Carnikava. „Ich spüre die aktuelle Krise deutlich. Jedes Mal, wenn ich einkaufen gehe, merke ich, dass die Preise gestiegen sind und die Einkaufstasche weniger voll wird“, sagt sie. Die Löhne in Lettland findet sie allgemein zu niedrig im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten.  

Tatjanas Lieblingsort

Auch Tatjanas Lieblingsort ist die Gaujas-Mündung an der Küste. Vor wenigen Jahren wurde am Ortsrand durch den Wald eine Promenade direkt zum Meer gebaut. Am Meer wird seit über einem Jahrhundert „Neunauge“ gezüchtet und gefischt. Eine Fischart die mit ihrer Form an Aale erinnert, bis heute Carnikavas Wappen ziert, sowie als lettische Spezialität gilt.

“Es fühlte sich Mitte der 90er an, wie eine unbewohnte Insel, viele umgefallene Bäume, wenig Menschen, ein unberührter Ort“, sagt Tatjana. Wenn man an einem Winterabend entlang der Küste spaziert, ist es menschenleer. Nur ein paar Möwen begegnen einem am verschneiten Strand der lettischen Ostseeküste.