Aktuelles aus der ems - electronic media school Potsdam Babelsberg

Ein Abendessen mit Una Sedleniece aus Riga

Ein Abendessen mit Una Sedleniece aus Riga

Schon in ihrer Jugend war Una eine Freiheitskämpferin. Mit 16 protestierte sie für die Unabhängigkeit Lettlands von der Sowjetunion. Ihre Lebensgeschichte ist verwoben mit der jungen Geschichte ihres Heimatlandes. Das stärkt sie auch in den Krisen von heute. Von Sören Hinze, Marie Röder und Martin Schmitz

Am Abend hat es geschneit, es ist glatt auf Rigas Straßen. Vorsichtig, nah am Geländer geht Una Sedlenciece die Stufen vom Nationalen Kunstmuseum hinab. „Ich mag diese Treppen nicht, eigentlich sind die nur für Touristen”, sagt sie. Normalerweise nimmt Una den Personaleingang. Sie ist stellvertretende Direktorin der Administration des Kunstmuseums und spricht fließend Deutsch. Das hat Una erst in der Schule, später in Deutschland während ihres Studiums gelernt: Deutsch-Lettische Kulturbeziehungen. 

Riga kennt sie gut, denn sie kam als 16-Jährige Gymnasiastin in die Stadt. Davor hat sie mit ihren Eltern in Alūksne [Deutsch: Marienburg] gelebt, etwa vier Autostunden von Riga entfernt. Es war damals eine bewegte Zeit: Durch die “Singende Revolution” und den Protest hunderttausender Lett*innen, erreichte das Land wieder die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Das war in den frühen Neunzigern. So lange gibt es auch den „Fliegenden Frosch“; ein mit zig Fröschen dekortierter Gewölbekeller. ”Hier hat sich seit den 90ern nicht mehr verändert – es sind nur noch mehr Frösche geworden“, sagt Una. In diesem Restaurant sprechen wir mit ihr über Lettland.

Hast du Angst vor Putin?  

“Jetzt wird es schwierig zu sprechen. Dafür habe ich kein Vokabular”, sagt Una und lächelt nervös. Sie findet ihre Worte dann doch. Erzählt davon, dass der Krieg für sie nicht im Februar begonnen hat, sondern bereits 2014, als Russland die Krim annektierte. Dass alles, was nun passiert, absehbar gewesen sei. Dass es in Lettland schon viel früher ein Verständnis dafür gab, wozu Putin fähig ist. Und dass sie bereits in ihrer Zeit in Görlitz gemerkt habe, dass Putin im Westen unterschätzt wird.  

Una erinnert sich noch gut an die Rede des russischen Präsidenten im Jahr 2001 vor dem Bundestag. Sie verfolgte sie mit ihren Kommiliton*innen auf dem Fernseher in ihrer Küche. Und sie war fassungslos. “Da spricht ein alter KGB-Agent”, warf sie ein. Ihre deutschen Freund*innen fanden die Rede weniger skandalös. Jeder habe eine zweite Chance verdient, sagten sie damals zu ihr.   

Heute zeigt das Fernsehen die Bilder ukrainischer Geflüchteter. Damit kommen Erinnerungen bei den Menschen in Lettland hoch, so Una. Auch bei ihrer Mutter. “Sie spricht plötzlich von Dingen, über die sie nie gesprochen hat.” Am Telefon erzählte sie zum ersten Mal, wie sie als Kind in den Wald fliehen musste. Ob die Flucht vor den Nazis oder den Soldaten der Sowjetunion war, weiß ihre Mutter nicht mehr. 

Wie gehen die Lett*innen damit um? 
”Ich merke hier keine Hysterie”, antwortet Una abgeklärt. Die Angst vor Russland habe es immer gegeben. “Ich bin damit aufgewachsen”, sagt Una. Als Schülerin hat sie 1991 das Ende der Besetzung Lettlands und die Wiederherstellung der Unabhängigkeit miterlebt. Jetzt wo die Ukraine für ihre Unabhängigkeit kämpft, möchte Una ihren Beitrag leisten – und gleichzeitig etwas gegen ihre eigene Angst tun.  

Viele Lett*innen solidarisieren sich mit der Ukraine. Im Zentrum von Riga sind Flaggen der Ukraine allgegenwärtig: Blau-Gelb wehen sie von Fenstern und Balkonen, sie kleben in Supermärkten und strahlen auf Werbetafeln. Auch auf Unas Smartphone leuchtet ein gelber Dreizack; das Wappen der Ukraine. Sie macht mit bei “Stopify” – klingt wie Spotify, ist aber ein Abonnement gegen den Krieg. Una zahlt jeden Monat 20 Euro an die Initiative aus Riga. Ihre Mittel fließen in Medizin, Kleidung und Hilfsgüter für die ukrainischen Streitkräfte. “Spenden, Unterstützen und Symbole zeigen. Das ist vielleicht wie man die Angst besiegt”, sagt Una.

“Einen Tag zum Augenarzt, einen Tag in die Oper” 
Nur selten stockt Unas fließendes Deutsch. “Mein Kopf ist ein bisschen langsam, das hat nichts mit der Sprache zu tun, sondern mit Corona.” Ihre zweite Infektion liegt wenige Wochen zurück und wie schon beim letzten Mal hat sie mit Gedächtnisschwierigkeiten zu kämpfen. Wenn die nicht bald weggehen, wolle sie sich durchchecken lassen. Und sie hat Glück: Denn ihre Arbeit zahlt die Versicherung – “und ich wohne in Riga”. Arzttermine seien zwar selbst in Riga schwer zu bekommen, aber immer noch leichter als auf dem Land. Zum Beispiel in ihrem Heimatort Alūksne am Dreiländereck von Lettland, Estland und Russland. Da wohnt ihre 80-jährige Mutter immer noch. “Bald hole ich sie wieder für eine Woche hierher und mache vorher schon Termine bei Fachärzten. Wir machen dann gemischtes Programm – einen Tag zum Augenarzt, einen Tag in die Oper.” 

Una kümmert sich aber auch stärker um ihre eigene Gesundheit. Sie senkt den Blick und streift mit ihren Fingerspitzen über beide Seiten ihres Oberteils: “Elf Kilo habe ich schon abgenommen”. Mit gesundem Essen reagiert sie auch auf die Inflation in Lettland. Die lag im Oktober bei 20,8 Prozent – mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. “Gesunde Ernährung ist billiger. Ich hole viel regionales Gemüse: Rote Beete, Kraut. Im Keller habe ich immer Kartoffeln und Möhren auf Vorrat.” 

Außerdem läuft Una zur Arbeit oder fährt mit dem Fahrrad. Ihr Heimweg führt durch einen großen Park vor der Altstadt, an dessen Ende ein über 42 Meter hoher Obelisk steht: das Freiheitsdenkmal. An der Spitze steht eine neun Meter große Frau, die drei Sterne in den Himmel hebt – sie stehen für drei historischen Landesteile. 

“Das ist schon eine wichtige Stelle, ein Symbol für die Freiheit”, sagt Una, den Blick nach oben gerichtet. “Ich hoffe, dass wir unseren Weg finden und unsere Staatlichkeit und Eigenständigkeit nicht verlieren.” Gerade jetzt, in den Zeiten des Krieges, wirkt das Denkmal wie eine Mahnung. Es ist eine Erinnerung daran, was auf dem Spiel steht.