Aktuelles aus der ems - electronic media school Potsdam Babelsberg

“Zwischen den Stühlen” – Sylvio Dahl und Benjamin Denes im Doppelinterview

“Zwischen den Stühlen” – Sylvio Dahl und Benjamin Denes im Doppelinterview

Sylvio Dahl gründete die ems – electronic media school vor fast 20 Jahren. In Potsdam-Babelsberg werden seitdem die crossmedialen Medientalente von morgen ausgebildet. Benjamin Denes war selbst Teil des 2. Jahrgangs und ist seit April 2021 der neue Geschäftsführer und Schulleiter der ems. Bevor im August der inzwischen 13. Jahrgang sein Volontariat an der ems beginnt, sprechen sie über die Rolle der ems in der Medienlandschaft, guten Journalismus und immer vollere Lehrpläne.

Wer in den Journalismus geht, brennt im Normalfall für den Beruf. Sie beide haben viele Jahre in Redaktionen gearbeitet, bevor Sie Schulleiter geworden sind. Warum haben Sie sich entschieden, statt Journalismus Journalisten zu machen? 

Sylvio Dahl: Es gab diese einmalige Chance. Ich war gerade Projektleiter für das neue ORB-Radiohaus und hatte schon immer Freude am Gestalten von etwas Neuem. Der damalige ORB-Intendant kam auf mich zu und fragte, ob ich mir vorstellen könne, die journalistische Ausbildung des ORB in einer Schule zu organisieren. Anfangs war das noch als Radioschule gedacht. Das war mir viel zu eng. Ich habe dann ein anderes Konzept vorgelegt. Damals ganz revolutionär: trimedial. Diese Idee fanden die beiden Gesellschafter zukunftsweisend und sie haben mich loslegen lassen. Chance gesehen, Chance genutzt. 

Benjamin Denes: Ich sehe den Wechsel an die ems nicht als Abkehr vom Journalismus, sondern eher als einen Rollenwechsel. Es gibt sehr große Übereinstimmungen zu der Arbeit des Redakteurs. Man muss sich als Ausbilder nur ein bisschen zurücknehmen. Ich habe hier selbst viele Jahre als Trainer mit den Volontärinnen und Volontären gearbeitet. Und ich glaube, dass das eine der wichtigsten Aufgaben im Journalismus ist: etwas weiterzugeben. Aber man profitiert auch sehr stark von dem, was die Volos, die neueren Generationen, an Verständnis, an Ideen und an Skills bringen. 

Die ems nimmt in der Medienlandschaft mit Journalistenschulen und öffentlich-rechtlichen Volontariaten eine Sonderrolle ein. Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) fördert in Kooperation mit der Medienanstalt Berlin-Brandenburg (mabb) die Schule. Wie kam es zu dieser Konstellation? 

Sylvio Dahl: Der ORB (Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg) war ein kleiner Sender und hat selbst gemerkt, dass er seinen Volontärinnen und Volontären nur schwer eine umfassende Ausbildung anbieten konnte. Die mabb war damals auf Berlin fixiert und suchte ein sinnvolles Engagement für Brandenburg. ORB und mabb hatten also zwei unterschiedliche Interessen, die mit meinem Konzept zusammengeführt werden konnten. Also haben sie ein Unternehmen gegründet – die ems. Wir gingen 2001 an den Start, mit unseren Gesellschaftern waren wir halb öffentlich-rechtlich und halb privatwirtschaftlich ausgerichtet. Mir gefiel diese Zwitterstellung sehr gut. In beiden Welten zu agieren bot viele Vorteile. Andererseits saßen wir immer zwischen den Stühlen. Aber eigentlich gehören Journalisten doch genau da hin.

Was genau störte die Kritiker der ems?

Sylvio Dahl: Den einen waren wir zu seriös, weil wir auf dem Handwerk bestanden, so wie sich das gehört, und die anderen haben gesagt, ja ihr mit eurem Boulevardansatz, eurer Zusammenarbeit mit Privaten. Das war manchmal nicht ganz einfach. Wer etwas Neues wagt, hat nicht nur Freunde. Aber mit unserer Arbeit haben wir nach und nach auch die Skeptiker überzeugt – und die ems ist ein wunderbarer Ort, wo Journalismus voll gelebt wird.

Was zeichnet für Sie guten Journalismus aus? 

Benjamin Denes: Wir haben an unserem ersten Tag im Volontariat gelernt: “Keine Leistung ohne Feedback.” Denn dieses Feedback macht etwas mit einem. Da geht es um die Haltung, die Sorgfaltspflicht, Sprache, Recherche. Es verändert dich, wenn du 20 Monate lang Feedback von den anderen Volos bekommst, die teilweise erbarmungslos, aber auch ehrlich sind. Guter Journalismus bedeutet, dass man auch 20 Jahre nach dem Volontariat selbstkritisch genug ist, um sich zu hinterfragen. Die Kombination aus Offenheit, Demut und Neugierde ist die wichtigste Charaktereigenschaft für einen guten Journalismus. Das ist mir wichtiger als eine preisverdächtige Schreibe oder Sprache. 

“Es verändert dich, wenn du 20 Monate lang Feedback von den anderen Volos bekommst, die teilweise erbarmungslos, aber auch ehrlich sind.”

Sylvio Dahl: Als Journalist muss ich neugierig sein, offen und vorurteilsfrei, immer wieder bereit, mich zu hinterfragen. Ich muss etwas wissen und wirklich verstehen wollen, völlig egal, ob das, was bei meinen Recherchen und Fragen herauskommt, dem entspricht, was ich gerne hätte. Ein guter Journalist kratzt nicht einfach nur an der Oberfläche, schielt nicht nur nach Aufmerksamkeit. Vor allem aber vermittelt er seine Informationen verständlich und klar für alle. Arbeite ich investigativ, bin ich skeptisch gegen jede Seite. Und ich muss gleichzeitig im höchsten Maße sorgfältig und korrekt vorgehen.

Bei alledem sind wir Dienstleister, keine Moralapostel, die unseren Kunden sagen, was sie denken sollen. An der ems predigen wir die Aufgabenteilung: Wir liefern die Information, Du bildest Dir Deine Meinung. Eine Grundskepsis steht jedem Journalisten nach wie vor sehr gut an, ebenso die Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren. Keine Sorge, deshalb bricht kein Zacken aus der Krone. Wir haben nämlich gar keine auf. 

Die Journalistinnen und Journalisten, die heute in den Beruf starten, müssen ein deutlich größeres Anforderungsprofil abdecken, als noch vor zwanzig Jahren. Online und Social Media haben neben Video und Audio deutlich an Stellenwert gewonnen. Laufen crossmediale Volontariate da Gefahr, ihre Lehrpläne zu überfrachten? 

Sylvio Dahl: Wir überfordern uns damit gegebenenfalls. Und es ist wahnsinnig schwer Prioritäten zu setzen. Ich kann mich an keine einzige Feedbackrunde mit einer Volontärsgruppe nach einem Ausbildungsabschnitt erinnern, in der die Volontäre nicht gesagt hätten: „Davon hätten wir gerne noch mehr gehabt.“ Wenn wir alle zusätzlich gewünschten Lehrtage addiert hätten, wären wir bei 24, 26 oder 30 Monaten Volontariat gelandet. Das aber ist einfach nicht zu leisten und nicht zu bezahlen. Ich bin mir gleichwohl nicht sicher, ob die ems auf Dauer bei 20 Monaten Volontariat bleiben wird, oder doch verlängern muss. Journalisten müssen heute zum Beispiel technisch noch mehr wissen. Gleichzeitig dürfen wir die Vermittlung unseres grundsätzlichen Handwerks nicht vernachlässigen.  

Benjamin Denes: Es wird ja oft und gerne davon gesprochen, dass wir wieder an einem Wendepunkt stehen. So ähnlich vielleicht, wie der Wendepunkt als die ems vor zwanzig Jahren gegründet wurde. Als VJs noch Exoten waren und der selbst der Redakteursschnitt im Radio noch relativ neu. Der neue Wendepunkt ist der, dass mittlerweile von fast allen Kolleginnen und Kollegen Schnittstellenkompetenzen erwartet werden zwischen Video, Audio, Online und Social, während wir gleichzeitig immer mehr Spezialisten brauchen. Für die ems ist das eine ganz interessante, aber auch schwierige Situation. Wir müssen uns fragen, wen wir eigentlich ausbilden: Generalisten und Generalistinnen mit Schnittstellenkompetenz oder müssen wir zum Beispiel auch die Arbeitsweisen des Datenjournalismus stärker einbringen, damit wir drei, vier direkt in eine Datenredaktion schicken können? Dieser Balanceakt wird immer ein Kompromiss bleiben. Wir schauen uns an, was unsere Volontärinnen und Volontäre mitbringen, ihre Vorkenntnisse und Neigungen und wie wir das ausnutzen können.

Sylvio Dahl: Die ems hatte nie das Problem, viele Ideen zu entwickeln, wie man die Ausbildung noch zeitgemäßer und besser machen kann. Sonst wäre es auch langweilig geworden. Die ems ist aber auch ein Unternehmen und abhängig von ihren Gesellschaftern. Jede Idee hat ein Preisschild. Jede Idee braucht Förderung. Wer eine immer besser ausgebildete Absolventenschar möchte, die möglichst multifunktional, zum Beispiel in einem Crossmedialen Newscenter, viel leisten kann, muss dafür auch ein Geld zur Verfügung stellen. In dem Moment, in dem zum Beispiel die Ausbildung aus guten Gründen weiter differenziert und gleichzeitig noch mehr in die Tiefe gegangen wird, kostet das auch etwas mehr. 

Wie haben sich denn die Volontärinnen und Volontäre über die Jahre verändert? Sind das immer noch die gleichen Menschen, die hier am Anfang des Volontariats durchs Eingangstor der ems kommen? 

Sylvio Dahl: Ich glaube, die Jahrgänge, mittlerweile fast Generationen, unterscheiden sich schon recht deutlich voneinander. Wir hatten am Anfang viele Volos, die über eine sehr gute Allgemeinbildung verfügten, sehr gute Kenntnisse in Politik oder Geschichte, aber überhaupt keine Kenntnisse von Technik, eine große Scheu zu präsentieren. Das ist inzwischen total anders.

Aber jahrgangsübergreifend gibt es auch reichlich Gemeinsamkeiten: Es waren und sind so viel bemerkenswerte Charaktere, die es an die ems geschafft haben. Zum Abschied als Schulleiter habe ich mich gefragt, was ich am meisten vermissen werde. Mir war sehr schnell klar: die Begegnung mit unglaublich vielen tollen, fantasievollen, mit allem Engagement in diesen Beruf wollenden jungen Leuten. Das habe ich über die Jahre sehr genossen. Dass einfach sehr, sehr viele anständige Frauen und Männer an die ems kamen, um von hier ihre Karrieren zu starten, witzige Typen, Leute, die wirklich etwas wollten und dafür gebrannt haben. 

Wer schnell reich werden will, der macht dieses Volontariat an der ems nicht. Dafür ist die Ausbildungsvergütung zu mickrig. Sie ist existenzsichernd, mehr nicht. Wer also hierherkommt, hat eine andere Motivation.

Vom Volontär zum Schulleiter ist nur ein Weg. Die ems zählt inzwischen über 200 Absolventinnen und Absolventen, davon 188 aus dem eigenen ems-Volontariat. Gibt es Lebenswege und Karrieren, die daraus entstanden sind, und Sie überrascht haben?

Sylvio Dahl: Überhaupt nicht. Mit vielen Absolventinnen und Absolventen haben wir regelmäßig oder sogar häufig Kontakt. Deshalb wissen wir auch, wie gut die allermeisten von ihnen im Beruf stehen. Ich freue mich für ihre Erfolge und bin stolz, dass sie so unterschiedlich unterwegs sind. So wie die Schule auch Unterschiedliches gefördert hat. Ich hatte zum Beispiel vor kurzem mit einigen zu tun, die ihre eigene Produktionsfirma gegründet haben. Das finde ich großartig, weil wir ihnen eben auch versucht haben, dieses betriebswirtschaftliche Denken ein bisschen mit auf den Weg zu geben. Sei jemand, der seinen eigenen Weg geht. So was finde ich super.

Benjamin Denes: Überrascht kann ich jetzt auch nicht sagen, weil die Ausbildung zum Glück auch nicht so angelegt ist, dass wir nur in eine Richtung zielen. Die Jahrgänge sind ja schon so ein bisschen gemischt. Das schließt, finde ich nicht nur das ems-Volontariat ein, sondern mindestens noch zwei weitere Volos, die hier auch ihre Ausbildung haben. Radio Bremen ist seit langem der Partner der ems. Und der wohl bekannteste Radio Bremen-Volo ist Jan Böhmermann, der hier seine Theorieausbildung parallel zum ersten ems-Jahrgang gemacht hat. Oder Carla Neuhaus, eine der besten deutschen Wirtschaftsjournalistinnen im Print-Bereich. Sie hat nach ihrem Praxis4-Volontatiat an der ems beim Tagesspiegel  gearbeitet und ist jetzt Ressortleiterin beim Focus-Magazin für Wirtschaft. Eine tolle Geschichte, finde ich. 

Für den 13. Jahrgang hat die ems ein diversitätssensibles Auswahlverfahren durchgeführt. Worin genau hat sich das ausgedrückt? 

Benjamin Denes: Wir haben beim Auswahlverfahren etwas verstärkt, was es immer an der ems gab: Offenheit für Vielfalt und Toleranz. Menschliche Werte, die Sylvio Dahl als Mister ems hier vorgelebt hat. Und zwar mit sehr viel Empathie und Nachdruck. Das haben wir im Auswahlverfahren versucht in den Briefings für unsere Jurorinnen und Juroren, bei den Aufgabenstellungen und übrigens auch im Appell an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu verstärken. Ihr seid hier wegen eurer Lebens-Geschichte. Ich glaube, das ist ein ganz wesentlicher Trend, der unsere Gesellschaft verändert. Sie wird vielfältiger. Auch in der Art, wie wir kommunizieren und Medien rezipieren. Wichtig ist in meiner Sichtweise, dass man einen unverkrampften und offenen Umgang damit hat. Auch einen selbstkritischen. Wir haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beispielsweise nach dem Auswahlverfahren gefragt, wie sie das Verfahren fanden und haben da auch sehr offenes Feedback eingeholt, um diesen Gedanken immer weiterzutreiben. 

Wie wird sich der Diversitätsgedanke im Lehrplan für den 13. Jahrgang zeigen? 

Benjamin Denes: Es gibt offensichtliche Module, bei denen es beispielsweise um die Sprache geht. Zum Beispiel diskriminierungsfreie Formulierungen. Das gab es in der einen oder anderen Form immer. Wir haben mit verschiedenen Institutionen auch schon immer zusammengearbeitet, wie den Neuen deutschen Medienmachern. Da haben wir uns Input geholt. Wenn wir über die Videoausbildung reden, geht es darum, dass wir mit unseren Bildern auch Klischees schaffen und untermauern können. Dafür müssen wir die Volontärinnen und Volontäre auch sensibilisieren.  

Diversität wird oft mit Migrationsgeschichte gleichgesetzt. Das ist aber zu simpel. Wir sitzen beispielsweise in Potsdam-Babelsberg und wünsche mir, dass wir bei unseren Trainerinnen und Trainern und Volos auch einen gewissen Anteil aus Brandenburg oder aus Ostdeutschland haben. Das spielt auch eine Rolle, wie man über Themen berichtet, welche Protagonistinnen man findet oder welche Wörter man verwendet. Und das ist nur ein Aspekt.

Und Diversity heißt eben auch, und das ist vielleicht die größte Herausforderung, dass wir nur dann gut sind, wenn wir hier auch Leute haben, die Diversity an sich ganz furchtbar finden, weil sie vielleicht ein konservatives Weltbild haben. Auch das heißt Offenheit. Das müssen wir als Medien, zumal als Institution, die auch aus öffentlich-rechtlichen Mitteln finanziert ist, mitdenken. 

Wie wird sich der Journalismus in den nächsten zwanzig Jahren verändern? Und wie wird die ems diesen Weg mitgehen?

Benjamin Denes: 20 Jahre sind tatsächlich eine sehr große Zeitspanne. Aber ich glaube, ein paar Trends kann man sehr deutlich erkennen, die eine sehr große Veränderung bringen werden. Der Übertrend ist Künstliche Intelligenz. Die wird die ganze Gesellschaft verändern. Und ehrlich gesagt, bin ich erschrocken, wie wenig wir heute darüber debattieren. Beispielsweise die ethischen Fragen. Die Deepfakes sind längst da. Es gibt kostenlose Apps, mit denen man plötzlich als Barack Obama oder irgendein Popstar sprechen oder singen kann. Ich will KI gar nicht verteufeln, sie kann auch ein fantastisches Instrument sein. Personalisierte Wetterberichte und Horoskope. All das sind Veränderungen, die kommen in zwei, drei Jahren auch schon für kleine Anbieter auf den Markt. Wir werden uns zum Beispiel damit auseinandersetzen, wie das den Beruf verändert, aber auch die Mediennutzung.

Ich glaube, was die letzten Monate mit der Pandemie gezeigt haben, ist der enorme Bedarf an Erklärkompetenz. Das was sich wirklich durchgesetzt hat, sind Kolleginnen und Kollegen, die mit journalistischer Kompetenz und Sorgfalt komplexe Sachverhalte sicher erklären. Menschen, die genau wissen, wie sie recherchieren können, aber wie sie auch anschaulich vermitteln können. Mit Sprache, mit Bildern, mit Grafiken und vielleicht dann auch mit Künstlicher Intelligenz.

Sylvio Dahl: Alleine aufgrund der technischen Prozesse wird es sehr, sehr viele Veränderungen geben. Das Berufsbild wird ganz schön durchgerüttelt. Journalismus ist ein Teil des gesamtgesellschaftlichen Systems. Da sich dieses zurzeit rasant verändert, ist es nur logisch, dass sich die Medienwelt verändert und somit auch die Anforderungen an die Journalistinnen und Journalisten.

“Die ems wird vorne mit dabei sein und nicht als Kehrwagen hinterherfahren.”