Alle fünf Jahre treffen sich zehntausende Lettinnen und Letten und singen gemeinsam im Chor – zum sogenannten Sängerfest. Diese Tradition reicht Jahrhunderte zurück. Warum singen die Lettinnen und Letten so gerne? Eine Recherche von Carl Winterhagen, Jonas Wintermantel, Yasser Speck und Julian von Bülow.
Eiskalter Wind weht durch Riga. Auf den Straßen liegt Schnee und wir sitzen in einem Café im Stadtzentrum. Vor uns stehen Kaffee und Mohnschnecken. Wir sind ganz vertieft in unsere Handys und tippen darauf herum. Es ist Stunde null unserer Recherche zu lettischen Chören. Bis zum nächsten Tag wollen wir bei einer Chorprobe dabei sein und herausfinden, was es mit den lettischen Chören auf sich hat.
Wir schreiben Chöre auf Instagram an und schicken Anfragen an Chor-Forscherinnen. All das bleibt zunächst unbeantwortet. Nach einer Stunde finden wir einen Artikel zum Riga Girls Choir auf der Website eines Jugendchor-Festivals aus Wolfenbüttel. Also rufen wir in Wolfenbüttel an. Wir hoffen, dass sie uns mit dem Riga Girls Choir vernetzen können.
Die Spurensuche führt über Deutschland
Es geht sofort jemand ans Telefon. Die Frau am anderen Ende der Leitung kennt die Chorleiterin des Riga Girls Choir persönlich. Nach nur zehn Minuten haben wir ihre Handynummer. Also rufen wir bei der Chorleiterin an. Sie geht nicht ans Handy. Wir schicken ihr eine SMS mit unserem Anliegen: „Können wir heute oder morgen bei einer Chorprobe dabei sein?“
Die ersten Anfragen sind raus, und so wagen wir uns wieder in die Kälte. Am Morgen waren wir noch an einem Laden mit dem Schild Musica Baltica vorbeigekommen und denken: wahrscheinlich die beste Anlaufstelle, wenn wir mehr über lettische Musik und die berüchtigten Chöre erfahren wollen. Und so versuchen wir unser Glück.
Im Notenverlag
Musica Baltica ist ein Verlag für Musiknoten im Herzen Rigas. Er liegt etwas versteckt unter einem Souvenir-Geschäft. Eine schmale Treppe führt ins Untergeschoss. Die Regale hier sind vollgestopft mit Noten, auf dem Boden stapeln sich versandfertige Kartons. Alle paar Minuten kommt jemand rein, um Noten abzuholen. Nachdem wir eine Mitarbeiterin von unserer Recherche erzählen, ruft sie ihre Kollegin an. Fünf Minuten später führen wir unser erstes Interview – in perfektem Deutsch.
Liene Sejane ist erst vor einigen Monaten aus Deutschland nach Lettland gezogen. Mit 18 kam sie nach Deutschland, in Münster hat sie Musik studiert – Querflöte – und in Bonn an einer Musikschule gearbeitet. Liene stammt aus einer ziemlich musikalischen Familie. Einige sind Komponist*innen und Dirigent*innen, ihr Vater ist ein „langhaariger Rocker“. Im Gespräch bekommen wir unseren ersten Hinweis auf das Geheimnis der lettischen Chöre.
ems: Kann man in Lettland der Musik überhaupt ausweichen?
Liene: In Lettland gehört Musik zur Grundausbildung. Die Musikschulen sind umsonst und deshalb sind alle Kinder nachmittags dort. Sie lernen Musik auch anders als in Deutschland. Sie gehen hier nicht nur einmal die Woche in die Musikschule für 30 Minuten Klavierunterricht. Zweimal die Woche lernen sie ein Instrument, dazu kommt Musiktheorie, Musikgeschichte und Gehörbildung.
Wovon handelt die lettische Musik?
Vieles kommt aus der Folklore. Jedes Kind kann ganz viele Volkslieder singen. Das kommt teilweise aus der Familie, schon die Eltern singen sie. Und da geht es um alles. Alles, was vorkommt. Um lettische Geschichten aus der Heimat sozusagen. Ja,ja. Die Letten sind sehr patriotisch. (lacht) Das waren sie immer, aber jetzt ganz besonders, ich denke auch wegen des Krieges in der Ukraine. Diese folkloristischen Texte – das kommt jetzt alles immer mehr zurück.
Alle fünf Jahre findet in Lettland das Liederfest statt. Kannst du uns davon erzählen?
Einmal habe ich selber dort mitgesungen. Ich war erst zwölf und der Chor meiner Mutter hat eine Sopranistin gebraucht. Das muss man einmal erleben. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich drüber spreche. 15.000 Sängerinnen und Sänger, die dasselbe Lied singen. Die Stars sind dabei vor allem die Dirigenten. Für sie ist es eine große Ehre, die Sänger dirigieren zu dürfen. Sie sind dann tatsächlich nur für ein Lied zuständig.
Welchen Stellenwert hat die Chormusik in der Öffentlichkeit, in den Medien?
Wenn ein lettischer Chor etwas erreicht oder ein großes Konzert gespielt hat, dann wird darüber berichtet. Auch in den Mainstream-Medien. Das kennt man in Deutschland ja nicht, dass die Radiomoderatoren sagen „Wow, unser Chor hat etwas geschafft!“ Was ich Deutschland sehr schade fand, weil es dort ja auch super gute Chöre gibt.
Nach dem Interview ziehen wir weiter zur lettischen Musikakademie, in der Hoffnung, dort einen probenden Chor zu finden. Seit 1919 reifen hier die besten Musiker und Musikerinnen aus Lettland heran. Wo, wenn nicht hier können wir dem Geheimnis der Chöre näherkommen?
Als wir am Empfang nachfragen, kommt prompt eine hilfsbereite Frau auf uns zu und geleitet uns durch das Haus. Die Chorprobe laufe schon seit einer Stunde, da könnten wir nun leider nicht einfach so hereinplatzen. Aber wir könnten ruhig vor dem Raum warten bis die Probe zu Ende ist, rät sie uns. Einige Minuten warten wir vor den Holztüren, um zu horchen, was nach außen dringt.
Doch mit Schallschutz kennen sie sich hier in der Musikakademie aus, nur ein paar Gesangsfetzen dringen an unsere Ohren. Aber wir wollen ja einen Chor hören und nicht nur darüber sprechen! Also wandeln wir mit gespitzten Ohren durch die gemütlich beleuchteten Straßen der Altstadt, immer in der Hoffnung, dass an der nächsten Straßenecke gesungen wird – ohne Erfolg. Schließlich sagen wir dem Mädchen- und Jugendchor für den nächsten Tag zu. Bis zur Probe müssen wir uns noch ein wenig gedulden.
Endlich bei der Chorprobe
Als wir uns am Freitagnachmittag vor dem Rigaer Kinder- und Jugendzentrum treffen, ist es längst stockdunkel. Lettische Fahnen, Lichterketten und Weihnachtsdekoration schmücken den Eingang des historischen Gebäudes. Im ersten Stock laufen die Vorbereitungen für die Weihnachtszeit auf Hochtouren. Hier probt der Riga Girls Choir für einen Auftritt beim Luciafest am 13. Dezember. Zu der traditionell schwedischen Feier findet dann ein kleines Konzert statt.
Als wir den Raum mit dem grauen Teppichboden und pragmatischen Weichholzmöbeln betreten, blicken uns etwa 20 junge Frauen an, die meisten zwischen 13 und 18. Ein leichter Schweißgeruch liegt in der Luft. Hier wird eben hart trainiert. Das liegt an Chorleiterin Irīna Švarcbaha. Mit 15 Jahren hat sie ihre Ausbildung zur Dirigentin begonnen, später Jura studiert. Doch dann merkt sie: „Ich kann nicht ohne Musik leben. Ich brauche meine Musik.“ Also wieder der Chor – ihr Instrument, wie Irīna sagt.
Die „Magie“ der Dainas
Teil dieses Instruments ist auch Irīnas Tochter Rūta. Die 18-Jährige singt im Riga Girls Choir und dirigiert ebenfalls. Rūta sagt über das Dirigieren: „Ich denke, man muss einen Weg finden, die Strenge, die emotionale Unterstützung und die Liebe zur Musik miteinander zu verbinden, damit man mit ihnen [den Sängerinnen, Anm. d. Red.] wirklich etwas erschaffen kann.“ Wenn sie vom Singen spricht, leuchten ihre Augen, sie redet von „Musik, die magisch ist“. Höchste Zeit also, dass wir uns das jetzt endlich einmal anhören.
Der Riga Girls Choir erhebt sich, um uns eines der rund 1,2 Millionen Dainas, der lettischen Volkslieder, darzubieten. Irīna nimmt ihre Position hinter dem Klavier ein und wir kauern uns gespannt auf den Teppichboden – Plätze in der ersten Reihe. Dann beginnt unser Privatkonzert:
Sofort merken mir, was Irīna meint, wenn sie sagt, dass die lettische Musik besonders „bunt“ ist. In dem Lied, in dem es um zwei Schneestürme geht, singen die jungen Frauen nicht nur. Sie tönen, sprechen, und pfeifen wie der Wind während Irīna mit jeder Ader ihres Körpers mitgeht und ihnen den Weg weist.
Wir lauschen gebannt bis zur letzten Note und ahnen nun allmählich, wie es die Letten geschafft haben, den zahlreichen Stürmen zu trotzen, die das Land in seiner Geschichte erlitten hat. „Es ist unsere nationale Identität“, erzählt Irīna, „das ist, was uns zusammenbringt.“